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29.09.24

KULTUR - Vortrag auf Davos

KULTUR // Was heißt: Genießen?

Die weisen Menschen in unserem Kulturkreis sprechen dem Genießen stets einen sehr hohen Stellenwert in unserem Leben zu. So schreibt etwa La Rochefoucauld: „Essen ist ein Bedürfnis, Genießen eine Kunst“. Oder Salvador Dalí: „Wer genießt, trinkt keinen Wein, sondern kostet Geheimnisse“.

Solchem Anspruch gegenüber nimmt sich das Wort Genießen, wie es heute im Alltag verwendet wird, flach und sehr breit aus. Alles ist Genuss. Wir müssen Diätjoghurt ebenso genießen wie warme Unterwäsche. Kein noch so mickriger Salat im Restaurant, der sich nicht stolz als Genießer-Salat anpriese und die simple Zusammenstellung einer Vorspeise mit dem Hauptgang wird zum Genießer-Menu (so z. B. im DB-Speisewagen).

 Solche Inflation des Genießens stört mich, da ich gleich zweifach davon betroffen bin. Als Zigarrenhändler habe ich es mit einem Genussprodukt zu tun, das gleichzeitig unter das „Rauchen“ ganz allgemein fällt. Zigarrerauchen aber ist etwas toto coelo anderes als Zigarettenrauchen.

2004 wurde erstmals das deutsche „Genussbarometer“ veröffentlicht. Wie genießen Menschen in Deutschland? Aufregenderweise gehört das simple Nichtstun neben sportlichen und die Wellness fördernden Aktivitäten zu den häufigsten Antworten (30-40%). Man kann füglich darüber streiten, ob das eine wie das andere die gleiche Befindlichkeit erzeugt. Beiden Fällen scheint eine gewisse Leere zu eigen zu sein. Das Verbindende ist schlicht etwas, das als „angenehm“ oder „erfreulich“ empfunden wird.

Das heute geltende Gegensatzpaar Askese vs. Genuss kennt zwei Verfallserscheinungen, die Asketismus und Genusssucht genannt werden. Letzteres soll bekanntlich eine Geißel der Jugend sein. Aber ist das Angenehme, das Erfreuliche wirklich schon Genießen? Haben die eingangs erwähnten weisen Männer nur heiße Luft um Nichts produziert? Um auf den Kern des Phänomens „Genießen“ zu stoßen, lohnt es sich, in der Tradition des Begriffs etwas tiefer zu graben. Nicht um eine vollständige Etymologie geht es mir, sondern um Hinweise darauf, was wir wirklich tun, wenn wir genießen. Das ist nicht l'art pour l'art. Vielmehr versuche ich darzustellen, warum heute der Genuss Instrument einer Ideologie geworden ist. Darauf komme ich im letzten Teil meiner Ausführungen zurück.

Genießen hatte bis zu seiner heutigen Verflachung immer eine geistige Konnotation. Es meint einen spezifischen Weltbezug, eine geistige Aneignung und Durchdringung, die nur das Genießen ermöglicht. Genießen muss erarbeitet werden im Rahmen einer kulturspezifisch differenzierten Bildung. Ja, Geniessen geht einher mit Bildung. Es hat auch etwas mit Erziehung, mit Pädagogik zu tun. So kommt es nicht von Ungefähr, dass die Bildungselite am besten genießen kann und geradezu vormacht, was diese Aktivität (!) bedeutet.

Wenn wir auf die Herkunft des Wortes achten, so hat Genießen etwas mit „Nutzen“ zu tun. „Genießbar“, „Nießbrauch“ und „Nutznießung“ verweisen darauf. Auch der „Genosse“, der zu einer Gemeinschaft von Menschen gehört, die zusammen einen ganz bestimmten Nutzen anstreben. Heute ist dieser Nutzen ganz auf Essen und Trinken reduziert. „Ich habe heute noch nichts genossen“ ist gleichbedeutend mit „Ich habe heute noch nichts gegessen“. Aber wie steht es dann um den Kunstgenuss oder den Genuss, von dem Mathematiker berichten, wenn sie eine besonders schöne Lösung für ein mathematisches Problem gefunden haben? Es gibt Schachspieler, die weniger den Sieg bei einer Partie genießen als die Eleganz und den Einfallsreichtum der Züge – selbst wenn sie verlieren.

Halten wir als Erstes fest, Genießen ist kein körperliches Ereignis, solches ist beim Essen und Trinken schiere Völlerei. Ein körperliches Ereignis ist schließlich auch der „Kick“ des inhalierenden Zigarettenrauchers oder der "Schuss" des Junkies. Genießen aber ist ein leibliches Phänomen. Der Unterschied liegt darin, dass leibliche Phänomene die Sinne und den Geist einbegreifen - „Geist“ hier als Insgesamt von Bildung, Intellekt und Erfahrung gemeint. Essen und Trinken sind körperliche Vorgänge, Ess- und Trinkkultur gehören dagegen der leiblichen Sphäre an.

Ich will diesen ersten Punkt illustrieren mit der Arbeit an den „niederen Sinnen“. Damit sind v. a. Schmecken, Fühlen, Riechen, Tasten gemeint. Selbstverständlich sind wir es gewohnt, dass Hören und Sehen einer gewissen Schulung bedürfen, damit wir z. B. ein Konzert oder ein bildhaftes Kunstwerk genießen können. Diese „höheren“ Sinne sind uns vertraut; sie sind in unserer Kultur dominant und werden auch in der Schule gepflegt. Aber können wir mit den höheren Sinnen arbeiten, wenn wir uns schlecht fühlen, wenn es kalt und zugig ist? Die höheren Sinne können nur dann Genuss vermitteln, wenn auch die niederen Sinne mitspielen. In besonderem Maße werden letztere wichtig, wenn es um Genüsse geht, die – wie in unserem Falle des Rauchens – wenig mit den höheren Sinnen zu tun haben. Nur: Ungeschulte niedere Sinne versagen vor der Möglichkeit eine Zigarre als Kunstwerk zu begreifen ebenso wie ein ungeschulter höherer Sinn niemals imstande sein wird, eine Statue oder ein Bild zu genießen.

Es ist ein Missverständnis zu meinen, es genüge schon, etwas über einen Künstler, über die Entstehung eines Kunstwerkes oder über die Zusammensetzung einer Zigarre zu wissen. Vielmehr geht es um eine Vergeistigung der Sinne, das geistige Durchdringen dessen, was mir die Sinne vermitteln. Damit kommen wir zum zweiten Punkt: Genießen ist eine unabschließbare geistige Arbeit mit den Sinnen. Also das pure Gegenteil vom bloßen sich Hingeben an das Körperliche, das Sich-Fallen-Lassen und Wohlfühlen, das mit Sicherheit auch im zeitlich ausgedehnten Schlammbad eines Wellnesshotels zu holen ist. Wer nicht an seinen niederen Sinnen arbeitet, bekommt die Quittung im Alter. Nicht von ungefähr spricht der Volksmund vom „alten Lüstling“. Zwar ist es richtig, dass die Sinne im Alter an Schärfe verlieren. Aber die abschätzige Charakterisierung „Lüstling“ trifft nur denjenigen, der immer stärkere quantitivative Reize braucht, weil er es nicht gelernt hat, die Qualität seiner Sinnesempfindungen zu genießen.

Das Nichtstun als Genuss, wie es die Befragten im „Genussbarometer“ nennen, ist bestimmt angenehm, es meint die Abwesenheit von (Arbeits)verpflichtungen. Auch das Sättigungsgefühl, das Gefühl beim Durstlöschen sind angenehme körperliche Empfindungen. Das sind aber, wie La Rochefoucauld sagt, Bedürfnisse und keine Genüsse. Um genießen zu können, muss ich an meinen niederen Sinnen arbeiten. Das ist schwierig, weil die niederen Sinne komplexe Systeme sind. Zigarren z. B. haben einen Eigengeruch, der sich beim Schmecken im hinteren Teil des Nasenorgans mit dem Eigengeschmack der Zigarre verbindet. Diesen Gesamteindruck beim Rauchen wiederum in Worte zu kleiden, ist dem nicht geübten Raucher nicht möglich. Aber den verschiedenen Geschmacksrichtungen beim Rauchen oder beim Weintrinken oder beim interessanten Essen nachzuhängen, macht erst den Genuss aus. Dann sind wir der Zeit entrückt, lassen Erinnerungen aufsteigen, werden vielleicht zu „Archäologen unserer Seele“, wie es einst der Schweizer Schriftsteller Hermann Burger in seinem Zigarrenroman „Brenner“ genannt hat und diese Form des „mit sich selbst Beschäftigens“ der Psychoanalyse gegenüber stellte. Hier zeigt sich ein typischer Effekt der Arbeit mit den niederen Sinnen: Die frühesten und am meisten löschungsresistenten Erinnerungen sind Gerüche. „So hat es damals bei uns zu Hause auch gerochen“ sagen zuweilen sogar Nichtraucher ganz verzückt, wenn sie mein Raucherzimmer betreten. Bloß: ich muss halt mit meinen sinnlichen Eindrücken etwas „anfangen“ können - sonst tut es ja auch eine Zigarette. Und die braucht weder Aufmerksamkeit noch Zeit.

Damit kommen wir zum dritten Punkt: Genießen ist ein Akt der Entzeitlichung. Beim Genießen gibt es kein Davor (außer vielleicht die Vorfreude auf den Genuss) und kein Danach. Genießen zieht seinen Nutzen aus sich selbst, ist auf kein Ziel gerichtet, schon gar nicht auf die verzweifelte Suche nach körperlicher Entspannung. Wer während des Rauchens, Trinkens oder Essens beispielsweise besorgt fragt, ob er sich das leisten könne, oder ob das Cholesterin, das Nikotin oder der Alkohol ihn dem Tode näher bringen, dem bleibt durch diesen Bezug auf das „Danach“ bestimmt der Genuss aus. Deshalb ist es auch fragwürdig, von einem „Genuss ohne Reue“ zu sprechen, wie es etwa Hersteller von besonders gesunden, z. B. fettfreien und ziemlich faden Lebensmitteln tun. Als ob es Genuss mit Reue gäbe. Das ist nichts anderes als das Zusammenbringen zweier unvereinbarer Kategorien. Dass wir überhaupt von Reue im Zusammenhang mit Genuss reden, ist ein Hinweis auf die Ideologisierung des Genussbegriffs. Doch davon später mehr.

Auch der Umgang mit der Zeit will gelernt sein. Und wer ihn beherrscht, hat die besten Voraussetzungen, ein Genießer zu werden. Wenn die empirischen Studien richtig sind, die nachweisen, dass rund ein Viertel der Deutschen nicht genießen können, so liegt das auch am Mangel der Fähigkeit, zeitlich „loslassen“ zu können, für die Dauer des Genusses ganz in der Gegenwart aufzugehen. Vielleicht kommt daher die Sehnsucht nach dem Nichtstun, das dann – psychologisch zwar verständlich, aber trotzdem falsch – für viele Menschen als Paradigma des Genusses gilt. Dabei verbirgt sich dahinter nur die Genussunfähigkeit. Eine der Gesundheitsdefinitionen des leidenschaftlichen Zigarrenrauchers Freud sagt: Arbeits-, Liebes- und Genussfähigkeit. Ist letztere gestört, so ist der betroffene Mensch in diesem Sinne krank. Es lohnt sich also, Voraussetzungen für das Genießen zu schaffen.

Welchen Stellenwert die niederen Sinne für das Genusserleben haben, verdeutlicht auch das folgende Homonym: Das Training des Geschmacks führt nicht nur zur technischen Verbesserung unserer Wahrnehmung, es bildet auch die Grundlage für das, was die Eliten „Geschmack“ im Sinne einer bestimmten Lebenseinstellung und Lebenserfahrung nennen. Wer „Geschmack“ hat, verfeinert diesen niederen Sinn zu einem übergeordneten Ganzen. Schönheit, Eleganz, Stil, Zurückhaltung in Architektur und Inneneinrichtung, entsprechende Kleidung umschreiben eine Umgebung, die sich nur dem am Geschmack Geschulten offenbart. Hier haben wir es wieder: Die Vergeistigung des Sinnlichen. Nicht anders ist es beim Gourmet, der nicht bei „lecker“ haltmacht, sondern das Geheimnis der Küchenkultur von der Tafel bis zur Zusammensetzung der Speisen und die Kombination mit dem Wein wenigstens ahnt. Schon Kinder müssen deshalb immer wieder „auf den Geschmack“ kommen. Belässt man sie nur im Reich von Hamburgern und Nudeln, vielleicht mit etwas Ketchup, so ist das ähnlich schädlich, wie wenn Kindern der Zugang zu schöner Musik, zu kostbaren Bildern nicht gezeigt wird. Geschmack ist eine leibliche Herausforderung und nur wer sie annimmt, wird jemals verstehen, was es heißt: „Er hat Geschmack“. Jener nämlich, der an der kulturellen Verfeinerung mitarbeitet und so zu einem selbstbewussten Menschen wird, der der Verführung von hohlen Markennamen und ihren (Genuss)versprechen nicht erliegt. „Geschmack“ lässt sich nichts vorschreiben und ist nicht einmal dem Diktat der Mode unterworfen. Das ist das vierte Kriterium: Genuss ist selbstbewusst und lässt sich nichts vorschreiben. Burger schreibt in dem erwähnten Roman, hätte Hitler die Zigarre so geliebt wie Churchill, es hätte nie einen Zweiten Weltkrieg gegeben. Auf unseren Zusammenhang übertragen, lässt sich mit Fug die Frage stellen, ob eine Voraussetzung von Diktaturen die Unterdrückung des Genusses ist. Hitler jedenfalls hat es mit Rauch- und anderen -verboten versucht. Zudem waren die Auftritte des Regimes im Dritten Reich nicht gerade geschmackvoll. Ist, so lässt sich in Abwandlung von Burgers Diktum fragen, einem Menschen mit Zigarre Subordination möglich?

Kommen wir jetzt auf die Ideologisierung von Gesundheit zu sprechen. Versuchen Sie einmal folgendes fiktives Experiment: In einer Zeitschrift erscheinen zwei Photos. Das eine zeigt einen gestählten Bodybuilder, das andere einen durchschnittlichen Menschen mit Zigarre. Wie würden wohl die Leser auf die Umfrage „Wer lebt gesünder?“ antworten. Es sähe wahrscheinlich für den Zigarrenraucher bitter aus. Und genau das macht sich ein ideologisierter, in diesem Sinne anti-freudscher Gesundheitsbegriff zu Nutze. Ich will gar nicht auf den Umstand hinaus, dass der Bodybuilder wohl seiner Muskelkraft mit etwas "Chemie" nachhilft (und so gewiss nicht gesund lebt), sondern auf das völlige Vergessen, dass zur Gesundheit zwingend der Genuss gehört. Der „Genuss“ schwindet hier zwar nicht aus dem gängigen Repertoire der Worte. Aber „Genuss“ wird inflationär und instrumentalisiert. Jetzt heißt es plötzlich nicht mehr Askese vs. Genuss, sondern Genuss betrifft alles, was gesund ist. Dem Asketismus stellt sich jetzt als Antagonismus die „Gesundheit“ entgegen. Mit der Reduktion von „Gesundheit“ auf das Körperliche wird der „Genuss“ ideologisiert. „Genieße!“ heißt jetzt plötzlich: „Lebe gesund“. Und in der Umkehrung: Wenn du gesund lebst, genießt du.

Dieser ideologische Mechanismus sieht vereinfacht folgendermaßen aus: Zuerst wird der Gesundheitsbegriff auf den Körper reduziert, dann werden alle Genussmittel als schädlich für die Gesundheit dargestellt und verbindet das Ganze mit der Doktrin, Gesundheit selbst sei der Genuss. So kommt es zu der für jeden Zeitgenossen beobachtbaren inflationären Bezeichnung von allem, was „gesund“ ist, als „Genuss“. Allein schon um dieser in unserer Gesellschaft schleichend vollzogenen Ideologiesierung kritisch zu begegnen, lohnt sich die vertiefende Auseinandersetzung mit dem eigenen Genussverhalten. In diesem Sinne: Vergessen Sie Ihre niederen Sinne nicht.

 Zusammenfassung:

1. Genießen ist ein leibliches, kein körperliches Phänomen
2. Genießen ist eine (unabschließbare) Bildungsaufgabe
3. Genießen ist Entzeitlichung
4. Genießen ist Emanzipation

Zur weiterführenden Lektüre seien empfohlen:
Hermann Burger: Brenner. Roman. Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1989
Thomas Platt (Hrsg.): Genussbarometer Deutschland. Wie wir zu leben verstehen. Ch. Links Verlag Berlin 2004
Gero von Randow: Genießen. Eine Ausschweifung. Verlag Hoffmann und Campe Hamburg 2001


Artikel veröffentlicht am 24 April 2009 auf artofsmoke.de



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