Alles hatte mit einer Wette zwischen unserem Mitarbeiter und unserem Vermieter begonnen. Christian Krendl war sicher, dass ein Rundgang durch den geschichtsträchtigen Osthafen zum Renner unserer Veranstaltungsreihe werden würde.
Im Gegensatz dazu war Medialynx-Chef Helmut Audrit überzeugt, dass das doch niemanden interessieren kann. Beim Empfang zu unserem ausgebuchten Hafenspaziergang am 9. Juli war eindeutig klar: Gewonnen hat Christian Krendl. Unser von Helmut Audrit geführte Streifzug „Von den Dächern bis in die Katakomben, von der Geschichte bis in die Zukunft des Osthafens" begann mit einer Zigarre in unserem Zigarrenlager.
Von dort aus starteten wir direkt in das Jahr 1907, als die Hafenanlage Gestalt annahm. Unsere Teilnehmer erfuhren dann, dass im heutigen Universal-Gebäude früher ein Speicher für bis zu 60 Millionen Eier war, und dass die ursprüngliche Kai-Mauer in den 80-ern für Gleise und Krananlagen verbreitert wurde. Helmut Audrit räumte auch mit der Legende auf, dass sich die Planer der Oberbaumbrücke in den Fluß zu Tode stürzten, als sie feststellten, dass sie ihre Brücke für Schiffe eines so großen Hafens zu klein gebaut hatten.
Abgesehen von den Zahlen und Fakten, etwa den 18 Meter tiefen Pfählen, auf denen die Gebäude stehen, oder den 12 Millionen Euro, die allein in der Technik der MTV-Studios stecken, waren auch die Randgeschichten unseres Vermieters spannend. So wie die von den listigen Hafenarbeitern: Diese sollten zu DDR-Zeiten ihre Linientreue mit einer täglichen Plan-Übererfüllung demonstrieren, erzählte uns Helmut Audrit. Doch was taten sie an Tagen mit schlechtem Wetter und zu wenigen Schiffen im Hafen, wo das nicht annähernd zu schaffen gewesen wäre? Sie stellten ein Paar Schuhe samt Socken an die Kai-Mauer und schickten einen Kollegen zum Mittagsschlaf ins Kran-Häuschen.
Für Stunden soll danach eine Suche der Grenzsoldaten nach einem vermeintlichen „Republik-Flüchtling" entbrannt sein, denn das Hafengelände war ja direktes Grenzgebiet. Währenddessen wurden die Arbeiter zum Zählen und Ausharren in die Hafenkantine geschickt, genau dorthin, wo wir heute unser Zigarrenlager eingerichtet haben. Erst als das Schicht-Ende nahte sei dann der Kollege vom Kran geklettert und mit der Erklärung, vom Trubel nichts bemerkt zu haben. Damit war die Akkord-Arbeits-Anweisung für diesen Tag vom Tisch. Gar nicht lustig erlebten wir die Erzählungen über die Bunkeranlage mit Gefängniszellen, die Helmut Audrit während der Bauarbeiten unter Haus 8 und 9 entdeckt hatte. Wir stiegen mit ihm in den Untergrund hinab und sahen russische Schrift an Metalltüren und Säulen.
„Abschiedsbriefe", sagte uns Helmut Audrit, der alles hatte übersetzen lassen. Auch wir hatten mit Anna Sladkova eine russisch-sprachige Teilnehmerin bei uns, die dann Worte wie „unschuldig", „Gefängnis" und „umbringen" zitierte. Aufgrund von Jahreszahlen neben den Schriftzügen vermutet Helmut Audrit, dass dort noch bis zur Wende russische Deserteure zumindest gefangen waren. Übrigens waren wir die ersten, die einen Blick in die Studios werfen durften, in denen Sat1 demnächst sein Frühstücksfernsehen und sein Magazin produziert. Um dem Sender nicht die Show zu stehlen, haben wir unserem Vermieter versprochen, die Fotos von diesen Kulissen auf unserer Seite noch nicht publik zu machen.
Nach gut zwei Stunden beendeten wir den Streifzug so, wie wir ihn begonnen hatten: mit einer Zigarre. Bei der Größten aus der neuen Montecristo-Open-Serie, einer Eagle, hatten wir genug Zeit, Helmut Audrit noch weitere Geschichten zu entlocken. Am Ende konnten wir alle ein wenig besser verstehen, warum der Geschäftsmann eingangs gesagt hatte: „Das Brandenburger Tor mag als Bauwerk vielleicht präsenter sein als der Osthafen. Aber hier hat die deutsche Geschichte all ihre Facetten gezeigt." Deshalb erzählt er gern und wenn möglich vielen Menschen vom Osthafen, und deshalb ist seine verlorene Wette wahrscheinlich die einzige Niederlage, die Helmut Audrit je geschmeichelt hat.
Übrigens: Verloren hat er eine Zigarre, was sonst.